Krimi „Verlogen“ – 2.Teil

ISBN  978-3-86541-719-0

Im Verlag Lehmanns Media erschienen

Verlogen

Leseprobe

Esther Duffy sah den Mann, der urplötzlich im Türrahmen auftauchte, an. Noch bevor sie reagieren konnte, stand er schon vor ihr und drückte ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie wehrte sich mit aller Kraft und der Stuhl kippte geräuschvoll auf die Seite. Sie hoffte, dass irgendjemand auf dem Gang den Lärm gehört hatte und trat noch einmal zu. Das muss Robert doch hören, dachte sie verzweifelt. Er musste einfach von dem Geräusch aufwachen und ihr zu Hilfe kommen. Esther kämpfte gegen den Mann und eine aufsteigende Übelkeit an, als alles schwarz wurde und sie fiel. Der Fremde fing Esther auf, legte seine Hand um ihre Hüfte und ihren schlaffen Arm um seinen Nacken, klemmte den anderen Arm in seine Hand an der Hüfte, so als ob sie sich bei ihm abstützen müsste. Das Tuch steckte er in die Jacke und ging, sie halb tragend, aus dem Raum. Er hatte nicht viel Zeit. Die kleine Treppe war am anderen Ende des Gangs. Er vermied es, dass die Überwachungskameras sein Gesicht erfassen konnten und sicherte sich nach allen Seiten ab. Er schaffte die Strecke, ohne dass sich jemand auf dem Flur blicken ließ. Er hörte, wie sich eine Tür öffnete. Schnell war er mit seiner Beute im Treppenhaus verschwunden. Die Tür schloss er leise. Der Fremde hob die besinnungslose Frau hoch und trug sie mit Leichtigkeit die Treppe hinunter. Er vermied es seinen Kopf zu heben und verließ das Gebäude durch den Notausgang der Garage. Die Elektrik der Tür hatte er zuvor ausgeschaltet, sodass er auch durch einen intern ausgelösten Alarm das Präsidium immer verlassen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Verschwinden der Frau bemerkt und dieser Inspektor stutzig wurde. Er huschte mit seiner Fracht auf die schmale Straße, wo ein schwarzer Kombi stand. Die bewusstlose Frau legte er in den geräumigen Kofferraum und schob die Gepäckabdeckung zu. Mit gesenktem Kopf stieg er ein und fuhr ohne Hektik aus der kamerabewachten Zone. Das Tor stand weit offen. Niemand hatte das bisher bemerkt. Der Mann fuhr im Schritttempo die schmale Einbahnstraße entlang, die vom Polizeipräsidium wegführte, als sich das große Tor zum Hauptgebäude, von einer Sirene begleitet, automatisch schloss. Jetzt hatten sie es bemerkt. Sämtliche Türen schlossen sich automatisch. Niemand kam hinein oder hinaus, einige steckten fest. Der Alarm war ohrenbetäubend und einige, die sich nahe genug bei den Lautsprechern befanden, hielten sich die Ohren zu.

***
„Ich habe alles gesehen“, sagte er ruhig.
„Wie lange sitzen Sie hier schon?“
„Jeden Tag. Ich komme zum Frühstück, unterbreche meinen Besuch hier nur, um auf die Toilette zu gehen oder wenn das Wetter schön ist, sitze ich draußen oder mache einen kleinen Rundgang über die Pier. Hier ist mein Stammplatz.“
„Verstehe ich das richtig? Sie sind jeden Tag hier?“
„Jeden Tag. Jeden Tag, seit meine Frau vor zwei Jahren von mir gegangen ist.“
„Oh, das tut mir Leid.“
Zu Nettles ́ Überraschung lächelte der Mann, anstatt betrübt zu sein.
„Nein, nicht doch. Ich bin glücklich. Endlich kann ich dem nachgehen, was ich schon immer machen wollte. Es war geradezu ein Befreiungsschlag.“
Nettles verstand nicht und vergaß einen Moment lang das Eis an die geschwollene Stelle zu halten.
„Das Eis…“, riet der Mann „Sie sollten es besser noch einige Zeit an ihr Kinn halten.“
Nettles tat es und fragte neugierig: „Und was machen Sie?“
„Schreiben.“
„Schreiben?“
„Ja. Schreiben.“
„Was schreiben Sie denn?“
„Romane. Ich bin Schriftsteller.“
„Ach. Sind Sie berühmt?“
„Ach, wissen Sie. Ich bin ein wenig bekannt, aber sicher nicht berühmt“, sagte er bescheiden.
„Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„John Smith.“ Nettles musste lachen und verzog sein Gesicht. Es zog unangenehm an seinem Kinn und er murmelte: „Das ist nicht ihr ernst, oder?“                                                        „Doch, ich heiße tatsächlich so.“ Sie lachten beide. „Ich habe zwar gesehen, dass Sie bei der Polizei was zu sagen haben, aber ich weiß noch nicht, wer Sie sind?“                                     „Oh, Entschuldigung. Mein Name ist Robert Nettles, Detektive Chefinspektor bei Scotland Yard.“ Dabei reichte er dem Schriftsteller seine Hand über den Tisch, die der kräftig schüttelte.

***

„Ich habe bei der Durchsuchung einen Schlüssel gefunden, der zum Tor des Schrottplatzes bei den Docks passt.“
„Was?“ Nettles stand plötzlich. Was für ein Fund, dachte er. „Hast du die Schlüssel ausprobiert?“
„Musste ich nicht. Der Schlüssel hat einen Anhänger und darauf steht die Adresse von Lundquists Schrottplatz.“
Nettles dachte kurz nach und sagte: „Fahr hin und teste den Schlüssel, zu welcher Tür er gehört. Sollte Lundquist da sein, bitte ihn ins Yard. Ich möchte mit ihm sprechen.“
„Okay, mach ich. Aber das ist noch nicht alles“, sagte Brown triumphierend. „Der junge Jake Phillips war auf dem Schrottplatz zur Ausbildung.“ Brown stand auf und lief aus dem Büro.
Nettles griff zum Telefonhörer. „Hallo Harriet? Ist Jamie Cameron da? … Schick ihn bitte zu mir. Danke.“
Einige Sekunden später stand Cameron in der Tür. „Ja, Sir?“
„Brown hat Ihnen einen Auftrag erteilt. Waren Sie bei ihrer Recherche erfolgreich?“
„Ich habe bisher nur den letzten Aufenthalt überprüfen können. Misses Phillips war fast ein Jahr zur Entziehung.“
„Wann genau?“
„2007, ab dem 15. August bis zum 31. Juni 2008.“
„Da war der Junge sechzehn. Und wo war Jake Phillips in der Zeit?“
„Wahrscheinlich in der Wohnung.“

***
„Was hast du gemacht?“, fragte Esther erstaunt.
„Das war beruflich. Nach dem, ich glaube, nach dem vierten Whiskey habe ich kapituliert.“ Er zeigte die Menge des Glases mit dem Daumen und Zeigefinger. Es war eine beträchtliche Menge. „Der Zeuge hat einen Liter allein getrunken.“
Esther staunte. „Wie viel Alkohol kann ein Mensch trinken?“
„Ich denke, das kommt darauf an, ob man nur sehr wenig trinkt, ein Genusstrinker, ein
Gelegenheitstrinker oder ein Gewohnheitstrinker ist. Aber seit heute Abend bin ich mir nicht mehr so sicher, ob Seeleute nicht eher Vollprofitrinker sind. Mir war elend von der Zigarre, die er mir angeboten hatte, und die Luft in der kleinen Spelunke war übel.“ Nettles schüttelte sich angewidert.„Verraucht, verbraucht und schlicht nicht zum Atmen geeignet. Jetzt möchte ich eigentlich nur noch ins Bad und dann ins Bett. Ich bin müde und mein Magen hat sich auch noch nicht erholt. Ich gehe duschen.“
Sie sah ihn mitleidig an.
„Was war bei dem Rechtsanwalt? Hast du einen Termin bekommen?“, wollte er trotz seiner Müdigkeit wissen.
„Ja, heute Vormittag. Handson hatte eine halbe Stunde, danach musste er zum Gericht. Er sagte, er kümmert sich darum und meldet sich.“ Sie stockte und sagte: „Es ist ein Brief aus Edinburgh angekommen.“
Nettles ́ Gesicht veränderte sich sofort. Er sah den Brief auf dem Tisch liegen und nahm ihn. Er öffnete ihn, holte seine Lesebrille heraus und las vor:
Sehr geehrter Mister Nettles,
der Trauergottesdienst ist für den 22. Dezember 2011 ab siebzehn Uhr in der St. Giles Cathedral Thistle Chapel in Edinburgh, High Street, angesetzt. Sollten Sie zu der Gruppe gehören, deren Angehöriger sich im Zentrum der Detonation befand, bieten wir zusätzlich eine Beerdigungszeremonie kurz nach dem offiziellen Teil an. Wir bitten um schriftliche
Zusage, da die Plätze in der Kirche nicht ausreichen könnten, wir aber den Betroffenen einen Platz freihalten möchten.
Mit freundlichen Grüßen
Das Pfarramt
Es war ein Serienbrief, den alle Hinterbliebenen bekommen haben. Nettles wusste, dass es keine Untersuchung geben würde. Er war den Tränen nah und sein Magen rebellierte. Seine Gesichtsfarbe war komplett verschwunden.
Esther versuchte ihn zu trösten und nahm ihn in die Arme. Er empfand Schmerz, der sich wie ein Schleier über alles legte und ihn lähmte.
***
Als sie fertig war, sah sie Nettles erwartungsvoll an.
„Was soll das?“, fragte er nur. „Diese Geschichten sind bekannt und abgenutzt. Alle Nazis haben annähernd die gleiche Geschichte auf Lager. Aber du warst damals ein Kind und hast das alles gar nicht so miterlebt. Für dich ist das alles mehr Hörensagen.“
„Aber mein Vater hat das erlebt und mich hat man sogar noch in der Schule denunziert!“
Nettles blieb unbeeindruckt und kam auf das Wesentliche zurück. „Woher kennst du Jacobi? Was ist deine Rolle in der Organisation?“
„Ich habe nichts zu sagen!“, sagte sie abweisend und kreuzte ihre Arme unter ihrer Brust, was ihre Abweisung noch unterstrich.
Nettles drohte der Kragen zu platzen. „Anscheinend verstehst du nichts! Wann und wo hast du mit Jacobi Kontakt aufgenommen? Rede schon!“, forderte er scharf. Er wollte seine Annahme endlich bestätigt wissen. Sie zuckte bei seinen barschen Worten zusammen und wirkte einen Moment eingeschüchtert.
Nettles wiederholte seine Forderung: „Wann und wo hast du dich mit Jacobi getroffen? Was habt ihr besprochen, was hat er vor und wo versteckt er sich?“ Nettles war kurz davor sie in eine Zelle bringen zu lassen. Ihm war speiübel von dieser Frau vor sich.
„Keine Ahnung!“, schrie sie Nettles an.
„Was hast du ihm erzählt?“, fragte Nettles. „Zum Beispiel über den Verbleib deines Mannes?“
„Na, dass er verhaftet ist und nicht mehr arbeiten durfte. Was sollte ich ihm denn sonst erzählen?“ Sie bemerkte ihren Fehler sofort. Aber es war zu spät.
Nettles wurde in seiner Annahme bestätigt und griff das Thema auf: „Du hättest es ihm verschweigen können.“
„Er würde es doch sowieso herausbekommen. Warum dann Lügen?“
„Weil es niemand gewusst hat. Du hast vielleicht deinen Mann auf dem Gewissen.“, sagte Nettles und sah in ein erschrockenes Gesicht. „Du hast sein Todesurteil ausgesprochen, ihn sozusagen an Jacobi ausgeliefert!“
„Was? Jetzt soll ich auch noch am Tod meines Mannes Schuld sein? Du phantasierst“, protestierte sie mit gewohnt fester Stimme, die sie so kalt wirken ließ.
Dennoch konnte Nettles es kaum glauben. War sie tatsächlich so naiv? „Wann siehst du ihn wieder?“, fragte er unverhohlen weiter.
„Es gibt keine festen Zeiten“, antwortete sie unterkühlt.
„Du meldest dich bei ihm?“
„Oder ich bekomme eine Nachricht.“
„Von wem?“
„Von dem einen oder anderen.“
„WER!“ Nettles Geduld war am Ende.
„Von Bill.“
„Bill wer?“
„Bill Gierhart.“
„Der Arbeitslose Bill Gierhart? Ist er ein Deutscher?“
„Nein, natürlich nicht. Er ist ein Mittelsmann. Der macht alles gegen Geld.“
„Wie läuft das ab? Ruft dich Gierhart an?“
Sie nickte.
„Von wo?“
„Was weiß ich.“
„Wo ist Michael Jacobi?“, fragte er unverblümt weiter.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Carol entrüstet. „Bin ich seine Mutter?“
„Nein. Wo ist er?“ Nettles ließ nicht locker.
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Du kannst nicht? Oder du willst nicht.“
„Ich kann nicht, weil ich es nicht weiß. Er wechselt ständig den Ort.“
„Er ist wohl sehr vorsichtig?“, mutmaßte Nettles.
„Was glaubst du denn?“
„Wo war er zuletzt?“
„Was weiß ich denn?“, antwortete sie genervt.
„Du lügst.“
Nettles dachte, dass sie vielleicht insgeheim Angst hatte und brach das Verhör ab. Es klopfte und Harriet stand in der Tür. Sie machte eine Geste zu ihrem Arm. Nettles sah auf die Uhr und nickte. „Schick bitte Owen rein“, sagte er zu ihr und sie verschwand.
„Also ein letztes Mal. Und glaube mir, sie werden dich nicht verschonen. Sie haben deinen Mann in einer bewachten Zelle ermordet. Das könnten sie auch bei dir schaffen.“
Carol McCoy schluckte. Sie hatte verstanden. Dennoch schwieg sie weiterhin. Warum schützte sie Jacobi noch, nachdem er ihren Mann hatte umbringen lassen?, fragte sich Nettles.
Fishburne und Cameron kamen zusammen und geleiteten Carol McCoy in ihre Zelle. Sie war kalt und ungemütlich und sie protestierte lautstark.

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